Bundesliga

Der Lilien-Abstieg muss kein Untergang sein

Kommentierende Analyse zu Darmstadts Zweitliga-Rückkehr

Der Lilien-Abstieg muss kein Untergang sein

Nach einer Saison in der Bundesliga geht es für Torsten Lieberknecht und den SV Darmstadt wieder ins Unterhaus.

Nach einer Saison in der Bundesliga geht es für Torsten Lieberknecht und den SV Darmstadt wieder ins Unterhaus. IMAGO/Sven Simon

Am Anfang gab es keine Alternative zum Optimismus. Man sei "gekommen, um zu bleiben", verkündete Darmstadts damaliger Sportlicher Leiter Carsten Wehlmann nach dem Aufstieg im vergangenen Sommer. Kurz vor dem Ende sprach Trainer Torsten Lieberknecht dann unlängst von einer "Horrorbilanz" angesichts von zwischenzeitlich 22 sieglosen Spielen in Serie vor dem 2:0 in Köln vor einer Woche - das 0:1 gegen Heidenheim besiegelte schlussendlich das Schicksal der Lilien. Letztlich unvermeidliche Konsequenz: Die Lilien werden nach einem Jahr Erstklassigkeit postwendend wieder ins Unterhaus zurückgeschickt. Für den hessischen Underdog ist es der vierte Bundesliga-Abstieg der Klubgeschichte nach 1979, 1982 und 2017.

Das Erfolgsrezept von 2015 ließ sich acht Jahre später nicht kopieren

Der Klassenerhalt gelang den 98ern nach den jeweiligen Aufstiegen nur ein einziges Mal, in der Saison 2015/16 unter Trainer Dirk Schuster. Das damalige Erfolgsrezept, sich beispielsweise in Person von Sandro Wagner, Peter Niemeyer, Konstantin Rausch oder Luca Caldirola umfangreich mit in der Bundesliga erprobten Kräften zu verstärken, ließ sich im Sommer 2023 nicht kopieren. Vor allem weil zwischen Emporkömmling Darmstadt und den 17 Konkurrenten mit Blick auf die Gehaltsbudgets ein deutlich größerer Abstand klaffte als noch acht Jahre zuvor.

COLOGNE, GERMANY - APRIL 20: Torsten Lieberknecht, Head Coach of SV Darmstadt 98, looks on prior to the Bundesliga match between 1. FC Köln and SV Darmstadt 98 at RheinEnergieStadion on April 20, 2024 in Cologne, Germany. (Photo by Leon Kuegeler/Getty Images)

Lieberknecht emotional: "Das trifft mich"

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Dass man heute intern darüber räsoniert, ob man beim einen oder anderen möglichen Transfer nicht doch über den eigenen Schatten hätte springen sollen, bleibt müßig. Wurden doch vor Jahresfrist zwei sich ergänzende Leitsätze als gemeinschaftliche Überzeugung ausgegeben. Erstens kein unverhältnismäßiges wirtschaftliches Risiko einzugehen. Und zweitens der Entwicklungsfähigkeit des vorhandenen Personals zu vertrauen.

Lieberknecht und seine Profis als Opfer der eigenen Überperformance

Teil zwei der Strategie beruhte auf einem Trugschluss, der sich bei nüchterner Betrachtung vom ersten Tag an durchschauen ließ. Hinsichtlich der individuellen Klasse verfügte Darmstadt schließlich schon in der 2. Liga keineswegs über einen der Top-3-Kader - und musste mit Phillip Tietz sowie Patric Pfeiffer obendrein zwei Leistungsträger ziehen lassen.

In der Aufstiegssaison ließen sich gewisse Defizite noch durch mannschaftliche Geschlossenheit und taktische Finesse überkompensieren. Dass dies eine Liga höher angesichts der gewaltigen Unterschiede in Bezug auf Physis und Handlungsschnelligkeit nicht mehr funktionierte, ist alles andere als eine Überraschung. So gesehen wurden Lieberknecht und seine Profis in der laufenden Spielzeit zu Opfern der eigenen Überperformance. Das ist objektiv keine Schande, dürfte die Beteiligten subjektiv aber dennoch enorm schmerzen.

Trotz Verletzungen und unglücklicher Einzelereignisse ist der Abstieg verdient

Zugutehalten dürfen sich die Lilien, über eine relativ lange Strecke und in vielen einzelnen Spielen noch das Beste aus den Umständen gemacht zu haben. Umso mehr angesichts von chronischen Verletzungsproblemen, die nicht zuletzt das Gros der wenigen potenziellen Leistungsträger betrafen wie Marvin Mehlem, Fabian Nürnberger, Matthias Bader oder Mathias Honsak.

Marvin Mehlem (SV Darmstadt 98)

Einer der Langzeitverletzten: Marvin Mehlem. IMAGO/Rene Schulz

Ob der Klassenerhalt realistisch gewesen wäre, hätte Lieberknecht durchgehend auf sein bestmögliches Gerüst bauen können? Diese Frage bleibt genauso wenig zielführend wie jene nach einem Verlauf ohne unglückliche Spielereignisse oder Schiedsrichterfehler. Von solchen wurde Darmstadt nicht häufiger heimgesucht als viele andere. Doch sind die Auswirkungen eben umso stärker, je schwächer das betroffene Team insgesamt auftritt. Darmstadts Abstieg, das bleibt in aller Sachlichkeit festzuhalten, ist verdient.

Der Manager-Wechsel von Wehlmann zu Fernie lässt sich als Chance begreifen

Dass in Wehlmann ausgerechnet derjenige schon im Winter ging, der den "Gekommen-um-zu-bleiben"-Slogan geprägt hatte, belegt: Nicht auf allen Ebenen herrschte am Böllenfalltor die gern beschworene Geschlossenheit, auch schon in siegreichen Zeiten. Den langjährigen Erfolgsarchitekten Wehlmann nachträglich zum Sündenbock zu machen -  sei es wegen seiner Kündigung oder wegen der Kaderzusammenstellung - wäre absurd und pures Alibi der übrigen Verantwortungsträger.

Davon unabhängig ist der Wechsel auf der Managerposition selbstverständlich trotzdem als Chance zu begreifen. Der unverbrauchte neue Sportdirektor Paul Fernie, der mit der Verpflichtung von Fynn Lakenmacher direkt eine wohltuende Duftmarke gesetzt hat, sorgt für spürbare Aufbruchstimmung. Die auch deshalb entstehen kann, weil auf der Trainerposition durch die demonstrativ frühe Vertragsverlängerung mit Routinier Lieberknecht in weiser Voraussicht für maximale Stabilität gesorgt wurde. Auch wenn der anstehende Kaderumbruch eine Herausforderung bildet und mahnende Beispiele von Klubs beschworen werden, die aus der 1. direkt in die 3. Liga durchgereicht wurden: Stand jetzt spricht viel mehr dafür, dass der Abstieg der Lilien beileibe kein Untergang sein muss.

Thiemo Müller

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